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Wann ist eigentlich jemand niemand im Web 2.0?

28. September 2010

Wann ist man „jemand“ im Web? sei die Leitfrage dieser Blogparade, doch anstatt die vielfältigen Selbsttechniken im Web 2.0 zu studieren – wir hätten da z.B. statische Selbstpräsentationstechniken wie Profilseiten, dynamische wie die umgekehrten Chronologien der Timelines und Activity Streams, die die Selbstauskünfte und Interaktionen der UserInnen verzeichnen, Bewertungs- und Hierachierungssysteme, einseitige und reziproke Beziehungsverwaltungprinzipien, etc. pp. – möchte ich die Frage zunächst umdrehen und fragen, ob und wann eigentlich jemand niemand sein kann im Web 2.0.

Mit dieser Frage tun wir uns nicht leicht: Es ist ja nicht einfach so, dass das ganze Web 2.0 und Social Web einen großen, technophilen Identitätskult darstellt, es leiden in eben solchem Ausmaße die BeobachterInnen, die einen solchen feststellen, unter den Folgen einer zugerichteten Perspektive, die vor allem die identitätsgestalterischen Aspekte ins Auge fasst. Aus dieser Perspektive wird jeder Videoblogger zum Selbstdarsteller, jede Microbloggerin zur Narzistin, als wären die Selbsttechnologien erst im Web 2.0 erfunden worden, als würde nicht jede unserer Äußerungen und Aktivitäten Zeugnis von uns selbst ablegen, uns zu einem Selbstverhältnis zwingen.

In dieser Tendenz ähneln sich der morgendliche Blick in den Spiegel, mit dem wir unsere Ausgehfähigkeit prüfen, und der Blick in die Videoblogging-Webcam. Lediglich wird dem nicht-vloggenden Kritiker der Spiegel entgehen, während der Blick in die Webcam als Selbstexzess erscheint (Wird übrigens derselbe Kritiker/diesselbe Kritikerin nach Einladung von TV-JournalistInnen in der Maske geschminkt, so gilt dies nicht als Selbstexzess, da von den Diskursen und Praktiken der massenmedialen Öffentlichkeitsgenerierung sanktioniert – müßig anzuzumerken, dass der oder die Kritikerin sich dem Schminken auch verweigern könnte, vorausgesetzt er oder sie ist bereit, unvorteilhaft rosa im Scheinwerferlicht auszusehen).

Festhalten lässt sich, dass Medien als Technologien des Selbst bei weitem keine Erfindung der Internet- oder Web 2.0-Techniken sind – auch der Bleistift ab dem 17. Jahrhundert und das tragbare Notizbuch stellten solche dar und waren wesentlich beteiligt an der Herausbildung etwa des reisenden, bürgerlichen Subjekts, das durch die Lande ziehend seine Beobachtungen notierte. Die aktuelle, technoökonomische Gesamtsituation derer, die jetzt ihre Beobachtungen notieren – ob auf Blog, Microblog und Social Network – ist freilich eine grundlegend andere:

Nur einer Minderheit gehört ihr Notizbuch auch selbst, die Mehrheit muss sich dieses gegen Leihgabe der Verwertungsrechte an ihren Notizen und Interaktionen von den Corporate Startups zurück leihen. Das ist nicht die Schuld der UserInnen – viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt der Umstand, dass es sich bei den UserInnen um das schwächste Glied in dieser technoökoomischen Gesamtsituation handelt. Die Userin ist ebenso wenig schuld wie die Arbeiterin am Entzug der Produktionsmittel. Identitätskult? Vielmehr: Drama der Enteignung der Rechte am eigenen Identitätsentwurf.

Aber halblang: Wir sind nicht die Summe unserer Statusupdates, Blogposts und Wallphotos. Wir mögen Teile unserer Identität, maßgeblich das, was wir als kommunikables Selbstbild verstehen (bzw. erst entdecken), darin entwerfen, aber was wir sind, ist damit nicht damit erschöpft. Die technologische Grundlage für Identität ist simpel: Eine Identität hat, was identifizierbar ist, was wiederholt als dasselbe identifiziert werden kann. Einzelne Blogposts haben eine ID(entität), einzelne BlogautorInnen haben eine ID(entität) – in den Diskursen über Identität 2.0 interessieren vor allem jene Identifikatoren, die sich auf Personen beziehen. Auch die Architektur der Social Networks ist rund um diese zentriert – andere Architekturen, wie z.B. die von Wikipedia, stellen Inhalte und deren Entwicklung in den Fokus, einzelne Foren (wie z.B. 4chan) geben die Profilregistrierung auf und arbeiten stattdessen nur mit Identifikatoren für einzelne Forenbeiträge (nicht zufällig ist 4chan der Inkubator einer kollektiven Identität namens Anonymous, aber das ist ein anderes Thema).

Es lassen sich also alternative, minder identitätszentrierte Architekturen entwerfen – was an der Identitätszentriertheit der gesellschaftlichen Diskurse und Praktiken vermutlich nichts grundlegend ändern wird. „Werde ein Jemand“ – das ist, nochmals, ein gesellschaftlicher Imperativ, der bei weitem nicht im Web 2.0 erfunden wurde. Allerdings können nun immer mehr Niemande Jemande werden – das macht denen, die bereits „Jemand“ sind Angst, das erklärt deren Versuche, die sich im Web Äußernden immer wieder einzuschüchtern, ihnen den erwähnten Identitätskult, Exhibitionismus, Egomanie zu unterstellen. Je nun… nur die wahrhaft Großen können andere neben sich groß sein lassen.

Neben den Corporate Startups als Institutionen der Enteignung am eigenen Identitätsentwurf (die zugleich die Produktionsmittel dafür bereit stellen) sind diejenigen, die versuchen, die sich Äußernden im Web wieder zum schweigen zu bringen, die so – ob gewollt oder nicht – Mitweben an einem Diskurs der Einschüchterung, die größten Feinde der Utopie einer demokratischen, vernetzten Gesellschaft. Was dagegen hilft? Bildet euch weiter, eignet euch die Technologien an, vernetzt euch – und lasst euch nicht den Mund verbieten, von keinem.

– – –

Dieses Blogpost ist ein Beitrag zur Blogparade „Ich 2.0“ im Rahmen der TwentyTwenty-Veranstaltungsreihe.

15 Kommentare leave one →
  1. Clamence permalink
    28. September 2010 2:12 pm

    das sag ich nur:
    selber!

    und das auf wordpress zu veröffentlich hat schon was.
    ist ca. so wie wenn einer der glaubt ein fotoapparat stielt einem die seele anderen erklärt, wie sie eine videokamera zu benutzen haben.

  2. 28. September 2010 4:00 pm

    wie kommst du darauf, dass ich mich ausnehmen würde bei denen, denen das notizbuch nicht selbst gehört, wo ich doch ganz offensichtlich auf wordpress.com blogge? glaubst du etwa, das wäre mir erst jetzt aufgefallen?

    warum wird eigentlich immer wieder angenommen, dass nutzer von social media zu blöd wären, ihre handlungen zu reflektieren? ich möchte im gegenteil behaupten, dass es kaum ein medium gibt, bei dem die nutzung parallel und im medium selbst in diesem ausmaß mitreflektiert wird. macht das ein filmemacher ist er selbstreferentiell und die ausnahme – und weil’s bei bloggern an der tagesordnung ist, hat es schon wieder keiner gesehen oder zählt’s nicht?

  3. 28. September 2010 4:20 pm

    Liebe(r) Clamence ohne Link, ich weiss nicht so richtig ob wir den selben Artikel gelesen haben. In dem Artikel, den ich las, ging es darum, dass eben gerade das Medium nicht wichtig sein sollte und lediglich tragend ist für den Inhalt und damit die Fragmente eines Identitätsentwurfs.

    Dies steht überhaupt nicht im Gegensatz dazu, dass gerade das bei diesem Inhalt benutzte Medium ein eben solches ist, das den Identitätsentwurf sich selbst zu entfremden versucht. Ganz im Gegenteil – die Emanzipation der Identität durch den Inhalt wird geradezu exemplarisch praktiziert.

  4. 28. September 2010 4:29 pm

    @Guido Danke, so schön hätte ich es nicht beschreiben können:) Letztlich ist so die widersprüchliche Existenz unter den Bedingungen der Populärkuktur gut charakterisiert – wie hat Fiske das genannt: ‚People have got to make do with what they got‘ (genauer Wortlaut entfällt mir gerade). Die Leute (ja, das schließt mich ein) müssen mit dem arbeiten, das sie vorfinden, was aber nicht heißt, dass sie sich nicht selbst einschreiben könnten. Widersprüchlichkeit, aber in dennoch der Versuch der Aneignung, ob man diesen als gelungen bezeichnen mag oder nicht.

  5. Clamence permalink
    29. September 2010 11:12 am

    also ich spreche gerade KEINEM social media nutzer die selbstreflexion (wenn das darunter zu verstehen ist, was im text ausgeführt wird) seiner handlung ab. sondern ich kritisiere was hier zur reflexion des umfelds hochstilisiert wird, um einen gewinn in der identitätsarbeit auf basis dieser „reflexion“ (wir müssen uns aneignen…), konstruieren zu können – wie du aber selbst schreibst, jana, reflektieren genauso aber alle schon mit. insofern hat der text den wert der aussage „zeig mir deine uhr und ich sage dir wie spät es ist“ auf nlp.
    denn paradoxerweise ist das mittel zur vermittlung das einzig unvermittelt vermittelte in der interaktion (im) zwischen (dem ort der identitätsbildung) leser und schreiber. das vermittelnde ist das einzige für beide fühlbare – wahrhaftig (er)kennbare. das vermittelte hingegen wird auf beiden seiten gedacht und ist somit da und dort fiktion. d.h. gerade die grenzen der mittel (von wem auch immer die gesetzt werden) schaffen den unerläßlichen rahmen zu dem was im text als reflektive nutzung bzw. aneignung dargestellt wird. das (mehr oder weniger) erforschen dieser grenzen bezüglich inhaltsvermittlung ist somit teil der identitätkonstruktion, nicht mittel dazu genauso wenig wie reflexion derselben und der nutzung desselben. das mittel bleibt in der mitte, womit auch immer dieses gefühlt wird, vom wem auch immer die gegrenzt ist. reflexion die zu erkenntnissen bezüglich von indenditätsarbeit, kann erst in 2. ordnung geschehen. alles andere ist (film)projektion. das ist das einzige, was ich im vorigen post vermitteln wollte…

  6. 29. September 2010 11:32 am

    „reflexion die zu erkenntnissen bezüglich von indenditätsarbeit, kann erst in 2. ordnung geschehen. “ – äh… nein.

  7. Clamence permalink
    29. September 2010 12:15 pm

    du bist ja lustig…so ein richtig nihilistischer mett-igel. was sagst du eigentlich zur reunion von „ace of base“?

  8. 29. September 2010 12:31 pm

    Nihilismus? Wohl eher „I call bullshit“.

    EDIT: Danke, Beschimpfungen brauche ich nicht auf meinem Blog, daher wurde dein nächster Kommentar gelöscht. Ebenso wie alle weiteren gelöscht werden.

  9. 29. September 2010 5:10 pm

    Ich geb’s nicht gerne zu, aber damit hast du recht – wenngleich Heinz Förster die Geschichte mit der 2. Ordnung wesentlich einfacher formuliert, aber ja, natürlich: Identitätsreflexion 1. Ordnung wär ja wie die Katze, die sich in den Schwanz, der 2 Sekunden in der Vergangenheit liegt, beißt.

    Du sprichst ja die Nicht-Neutralität der Mittel in deinem Post an – das ist eigentlich für mich die Kernfrage: was ist „technisch implementiert“ (oder mit Kittler: Hardware) und was ist „Software“ (Nutzungspraxis, und die gibt’s sehr wohl.

    Und: was ist ein Mett-Igel?

  10. 29. September 2010 5:53 pm

    @Ritchie Wobei dir eine mögliche Antwort von Clamence vorenthalten bleiben wird – Mett-Igel Afficionados, die anfangen zu pöbeln, haben nämlich keinen Zugang zu meinem Blog.

    Und bei aller Freude am Auseinanderdividieren wollen von ersten, zweiten oder gar dritten Ordnungen der Selbstbezüglichkeit – es geht und ging auch immer schon simpler (ein Blogpost über Bloggen ist Metabloggen, ein Film über das Filmemachen eine Form der Selbstreflexivität) und wo immer jemand solche Ordnungen ausmacht, zeigt sich früher oder später, dass die Grenzen trotzdem nicht aufhören zu fließen.

Trackbacks

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