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Was tun, wenn die #unibrennt

24. Oktober 2009

Was bisher geschah: Am 22. Oktober begann die Besetzung des Audimax im Hauptgebäude der Uni Wien und wird zum aktuellen Zeitpunkt an dem dieses Blogpost veröffentlicht wurde (24. Oktober, 2 Uhr morgens) auch noch weiter fortgeführt. Unter den Hashtags #unibrennt und #unsereuni (die allein schon unterschiedliche Positionen abbilden) kann man das Livegeschehen auf Twitter verfolgen. Obendrein gibt es Streams aus dem Audimax, z.B. hier, auf Luca Hammers QIK-Account.


Gestern abend schrieb mir Thomas Lohninger auf Twitter:

@digiom ich vermisse irgendwie Tweets/Meinung von dir zu #unibrennt ist schließlich Top 5 Thema in Twittercharts und Uni relevant.

Gut beobachtet – ich beobachte derzeit. Festzuhalten gilt: Die #unibrennt ja nicht, weil das Audimax besetzt wird, sondern das Audimax wird besetzt weil die #unibrennt. Die Studierendenzahlen im Fach TFM sind in der Tat erstaunlich (an einem Institut soviel Studierende wie in allen fünf Studiengängen der FH, an der ich bis vor zwei Jahren gearbeitet habe, zusammen und dann mal fünf), die Anmeldungen allein für eine Vorlesung gehen im Rekordfall bis hinauf auf 1400 (die deshalb auf Initiative des Instituts ja auch ins Web gestreamt wird, eine Maßnahme, die sich z.B. auch Michael Thurm in Graz wünschte). Warum also das Schweigen (und Beobachten) im Walde?

Wir sind Audimax, von Richard Pyrker (CC-BY-NC)

Wir sind Audimax, von Richard Pyrker

Wer eine Meinung äußert zu den Protesten muss auch Stellung beziehen zu den Forderungen der Studierenden, die auf der Seite der ÖH nachgelesen werden können:

– Re-Demokratisierung und Stärkung der Mit- und Selbstverwaltung in allen
Bildungseinrichtungen!
– Ausfinanzierung der Unis!
– Selbstbestimmtes Lernen und Leben ohne Konkurrenz- und Leistungsdruck!
– Freie Masterzugänge!
– Keine verpflichtende STEP!
– Abschaffung aller Bildungs- und Studiengebühren!
– Keine Aufnahmeprüfungen!
– Unabhängige Lehre und Forschung!
– Schluss mit prekären Dienstverhältnissen für Lehrende, Angestellte und ArbeiterInnen!
– Genug Studienplätze für alle!
– Abschaffung der Erweiterungscurricula!
– Flexible und selbstbestimmte Studienpläne!

Doch nicht zu einer dieser Forderungen kann man sich in den 140 Zeichen, die einem auf Twitter zur Verfügung stehen, auch nur halbwegs angemessen äußern. Allein über den Aspekt „Selbstbestimmtes Lernen und Leben ohne Konkurrenz- und Leistungsdruck!“ ließen sich ganze Dissertationen schreiben (angefangen vom Widerspruch in sich der da lautet ‚Wie vermittelt man Studierenden, die die Fähigkeit zum selbstbestimmten Lernen eben noch nicht besitzen, genau diese Fähigkeit?“ bis hin zur Schwierigkeit der Anwendung alternativer Bewertungssysteme im Angesicht der Verpflichtung der Universitäten, erworbene Fähigkeit in Form von Abschlüssen zu zertifizieren). Die Tatsache, dass viele der Forderungen plakativ sind und der Kontextualisierung bedürften, um sie überhaupt zu diskutieren macht es nicht leichter.

Das einzige inhaltliche Statement, das ich mir also bislang geleistet habe, bezog sich auf den Bologna-Prozess, der zwar in den obigen Forderungen nicht explizit genannt wird (vgl. dazu die Forderungen der Studierenden der Akademie der bildenden Künste), aber die Hintergrundfolie bildet. So gewinnt etwa die Forderung der Abschaffung der Ergänzungcurricula erst Profil, wenn man berücksichtigt, dass diese Curricula die freien Wahlfächer der Zeit vor dem Bologna-Prozess ersetzen sollen (Bitte um Korrektur wo ich mich irre – meine Rekonstruktionen dessen, was vor meiner Ankunft an der Uni Wien Sache war, sind noch immer puzzlestückartig).

An wen wird aber sinnvollerweise ein Protest gerichtet, der auf einer 1999 „von 29 europäischen Bildungsministern im italienischen Bologna unterzeichneten, völkerrechtlich nicht bindenden“ Erklärung basiert? Und ist überhaupt der Bologna-Prozess an allem Schuld?

Immerhin: Zu meiner Studienzeit gab es – ohne jeden weiteren Protest, da man eben ganz allein für sein Studium verantwortlich war – unglaubliche Abbruchraten, etwa an der philosophischen Fakultät der Uni Köln um bis zu 70%. Das lag weder daran, dass die Leute unfähig waren noch an einem Mangel an Lehrveranstaltungen (ein Seminar mit 50 Teilnehmern kam uns zwar voll vor, aber im Vergleich zu den aktuellen Betreuungsverhältnissen an vielen Universitäten ist das fast paradiesisch). Nein, das Studium dauerte einfach zu lange, und bis man endlich alle Pflichtvorlesungen, Proseminare, Zwischenprüfungen, Hauptseminare, Oberseminare, Diplomkolloquia beisammen hatte (und das über drei Fächer, die bis zur Magisterprüfung fortzusetzen waren – nicht zu vergessen musste ich auch das Latinum nachholen, da dies eine fachspezifische Anforderung war) , war vielen schlicht die Luft und/oder das Geld ausgegangen.

Viele mussten sich entscheiden: Nehme ich jetzt dieses Jobangebot an oder mache ich doch noch meinen Abschluss? Hätte es damals Bachelor-Programme gegeben, hätten viele zumindest diesen in der Hand gehabt – so fielen viele aber vom 12. Semester kurz vorm Magister zurück auf Abitur als höchsten Bildungsabschluss. Allein die Magisterprüfungsphase dauerte bei vielen (so auch bei mir) über ein Jahr.

Das ist nur einer der guten Aspekte der BA/MA-Umstellung – und im Vergleich zu Fachhochschulen hat man an den Universitäten den Vorteil, dass man sie nicht fix in drei (Bachelor) bzw. zwei (Master) Jahren fix beenden muss. Und das ist nun auch einer der Gründe, warum ich vor allem beobachte – heilfroh und hoffend, dass bildungspolitisch durch die Proteste etwas ausgerichtet wird, insbesondere was die Finanzierung der Universitäten angeht, aber gleichzeitig auch zurückhaltend, da eine Diskussion der Sacheverhalte angesichts der verknappten und verkürzten Forderungen schwierig ist. Und trotz aller Verkürzung und Verknappung sind diese Proteste ja ernst zu nehmen – @Luca formulierte heute treffend:

Bin mit vielen bei #unibrennt unzufrieden, aber man muss damit arbeiten und ich finde es toll, dass etwas passiert.

Mein Beitrag beschränkt sich also darauf, für den Fall der Fälle das Material meiner eigenen LV so aufzubereiten, dass man im Zweifelsfall alles über Selbststudium und unter Nutzung der e-Learning-Plattform sich aneignen kann – sei es, weil der Hörsaal besetzt ist oder weil es so Personen nutzen können, die selbst im Audimax sitzen. Die Fähigkeit zum selbstbestimmten Lernen – das ich nicht verstehe als ‚ich mache wonach mir grad der Sinn steht‘ sondern als ‚ich übernehme die Verwantwortung für mein Lernen selbst‘ – freilich immer vorausgesetzt.

Durchhalten! Von Peter Kraus

Durchhalten! Von Peter Kraus

Noch ein paar Tweets der letzten Minuten (alle jeweils rund um 2 Uhr früh abgesetzt):

anarchietaube: #audimax ’ska-tunes‘ von „one two three cheers and a lion“, arkadenhof bumvoll mit ‚elektro-beats‘ — herkommen, abgehn! #audimax #unibrennt

peterkraus: So sah es im #Audimax grad aus.schon einige Uni Proteste mitbekommen,aber das fühlt sich ganz anders an! #unibrennt http://twitpic.com/mnsxz

rigardi: auch um 2 uhr früh ist #audimax noch bummvoll #unibrennt http://twitpic.com/mnsz8

WernerReisinger: ♺ @ugrazgehoertuns 3000 leute im #AudiMax wien! #unibrennt http://bit.ly/Bj0o

Update: Die Forderungen wurden mittlerweile aktualisiert.

19 Kommentare leave one →
  1. 24. Oktober 2009 3:05 am

    Gut analysiert! Ich finde es besonders toll, dass du meine Idee vom #hashtagduell zwischen #unibrennt und #unsereuni erwähnst. Hashtagduell klingt zwar etwas kriegerisch 😉 aber ich wollte einen klaren Unterschied zwischen passivem solidarisieren(unibrennt) und aktiven diskutieren(unsereuni) schaffen.

  2. 24. Oktober 2009 5:52 am

    Vielen Dank für deine Reaktion!

    Aus meinem Kommentar ist ein eigener Post geworden: http://socialhack.eu/wp/2009/10/ein-radikaler-gegenentwurf/

  3. 24. Oktober 2009 1:30 pm

    Viel Erfolg bei Eurem Protest und für eine Verbesserung der Studienbedingungen.

  4. 24. Oktober 2009 1:46 pm

    ad Bologna: so in etwa hat es auch Sigi Maurer ausgedrückt, es is dafür etwas zu spät…
    und von wegen Party: Es is schade (aber natürlich) dass sich die Diskussion bei den Gegnern immer auf sowas reduziert – dabei ist es nur logisch und gerecht, wenn dann am Abend gefeiert wird. Ich mein, was solls – schließlich werden in den verschiedenen Arbeitsgruppen tatsächlich Inhalte ausgearbeitet. Irre spannend eigentlich, dass das so spontan überhaupt läuft.

  5. 24. Oktober 2009 2:00 pm

    @rip nur kurze rückfrage: war aber eh klar, dass ich es nicht auf party reduziere, oder? kann man vielleicht so deuten, weil ich es unkommentiert gepostet habe – beabsichtigt war aber das gegenteil, nämlich darauf hinzuweisen, dass es zwei uhr morgens ist und das audimax immer noch voll. im sinne eines urban hacking ist super klass, dass der arkadenhof mal electro beats zu hören kriegt!

  6. 24. Oktober 2009 2:03 pm

    Ne, die Tweetauswahl von dir war eh gemischt – aber sonst hör ich von der (wie auch immer gearteten) „Gegenseite“ nur dieses Argument. Achja und natürlich schad dass ich gestern Nacht nicht dort war: Als das letzte Mal eine Arkadenhof-Party erlaubt war, war ich selbst gerade noch kein Student. Ohweia is das lang her. Stichwort tödlicher Treppensturz ;(

  7. 24. Oktober 2009 2:07 pm

    @rip Tödlicher treppenstrurz?

  8. 24. Oktober 2009 2:50 pm

    @digiom Oh das is so irre lang her (1995) dass ich jetzt nichtmal was ergoogeln kann. Bei der letzten großen Arkadenhofparty ist das Treppengeländer eingestürzt, eine Tote. Drinnen wurde weitergefeiert – die Leute hatten ja noch keine Handys (!)

  9. 2. November 2009 2:24 pm

    Klasse das es Menschen gibt die hinter die blinde Wut gucken. Gerade dein Hinweis auf die Verbesserungen von Bologna gefiel mir sehr gut.

    Weiter so!

  10. 2. November 2009 5:46 pm

    Ich glaube ja an Bologna – vor allem, wenn einem durch einen frühzeitigen ersten Abschluss die Gelegenheit gegeben wird, sich den DInegen zu widmen, die einen wirklich interessieren. So kann man’s auch sehen. Und auch ein curriculares System kann noch keine alleserklärende Erklärung dafür sein, dass man keine Freiräume gefunden / gesucht hat. Habe zuvor an einer FH unterricht – wer glaubt, dort würden keine kritischen Geister gedeihen können irrt gewaltig.

  11. 11. November 2009 7:57 am

    Hallo,

    Das ist wirklich alles sehr beeindruckend!
    Ich hoffe die Proteste weiten sich hier in Deutschland genauso rasant aus, wie bei euch! 🙂
    Ab 17.11. geht hier der Bildungsstreik in die zweite Runde…

    Viele Grüße aus Bonn,
    von einem viertel Österreicher,
    namens Edward

    😉

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