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Vom Wert der Mikronischenrevolte (ad causam Lorenzis)

11. November 2008

Seit gestern läuft unter www.scheissinternet.at eine Mikrorevolte gegen ORF-Programmdirektor Wolfgang Lorenz‘ Äußerungen über (O-Ton) „dieses Scheiß-Internet“ am Freitag, 7.11., bei einer Panel-Diskussion am Elevate-Festival. In einem allerersten Blogpost am nächsten Tag berichtete Sebastian Bauer:

Hat er das gerade wirklich gesagt, “scheiß Internet”? Er hat! Und wird nicht müde es zu wiederholen, er redet sich geradezu in Ekstase. Die Jugend von heute sei nicht in der Lage sich richtig zu artikulieren. Außer in Postings im Internet. Und ihm sei es “scheißegal”, was wir in diesem Internet machen würden.

Auf heftigen Widerspruch aus dem Publikum und die Feststellung, dass man im Internet interessantere Angebote finden würde als sie der ORF biete, folgte der Sager des Abends. “Es ist mir scheißegal, ob Sie zuschauen oder nicht.” Wortwörtlich hat er es so gesagt, der Programmdirektor des ORF.

(Siehe auch Bericht und Fotos auf Chilli.cc)

Wird es dem Herrn Lorenz also weniger scheißegal sein, dass unter www.scheissinternet.at offene Briefe an Lorenz gesammelt werden?

Die offenen Briefe bestehen aus Tweets, d.h. einzelnen, maximal 140 Zeichen langen Botschaften auf der Mikroblogging-Plattform Twitter, den die Autoren das Hashtag #anlorenz zugefügt haben – so sieht Widerspruch im zeitgenössischen Format aus, denn für 140 Zeichen findet sich in der postmodernen Arbeits- und Identitätsmanagementsgemengelage und im Angesicht des allgemeinen Aufmerksamkeitsdefizits immer noch die Zeit.

Ich bezweifle allerdings, dass Wolfgang Lorenz et al. in der Lage sind, eine Mikrorevolte zu verstehen, bzw. überhaupt einen Protest als solchen wahrzunehmen, der nicht so ausschaut wie er in seiner eigenen Jugend praktiziert wurde:

„Es fehlt eine aufgekratz[t]e Jugend, die ihre Chance einfordert und Lust hat, die Gesellschaft in die Luft zu sprengen“, bedauert Lorenz.

Vergessen wir auch nicht: Viele heutige 1968er imaginieren sich selbst retrograd als ehemalige Aufmüpfige – in Wahrheit haben viele (wie z.B. meine Mutter) lediglich ein oder zweimal in einer ausgefallen Unterrichtsstunde auf der Schulmauer gesessen und „Ho-Ho-Ho Chi Min“ gerufen, aber im Rückblick und im Angesicht der heutigen ‚Jugend‘ und der eigenen Unfähigkeit, die Welt aus deren Augen zu sehen, schneidet ihre eigene Generation im Vergleich natürlich um einiges revolutionärer ab.

Mikrorevolten im Netz gestalten sich wesentlich pragmatischer – vom Bürostuhl oder Sofa aus lassen sich Facebook-Pages wie diese – I ♥ Wolfgang Lorenz – Scheiss Internet – ins Leben rufen, denen man sich mühelos mit einem Mausklick anschließen kann. Ease of Use, Ease to Revolutionize, Herr Lorenz. Das müssen Sie nicht verstehen, Herr Lorenz, aber es liegt nicht an Ihrem Alter – Alter mag zwar häufig mit geringer Internetaffinität korrelieren, aber die Rechnung ‚Die Jugend vs Lorenz‘ geht hier ebenso wenig auf wie ‚Lorenz vs die Jugend‘.

Fragen Sie doch mal Ihren Fast-Jahrgänger Howard Rheingold – der Einfachheit halber, fragen Sie ihn auf Twitter! Und warum sehe ich jetzt schon vor meinem geistigen Auge, wie Sie die Nase rümpfen angesichts des Gedankens einer Revolte vom Sofa aus?

Aber wer hier die Nase rümpft hat was nicht verstanden, und der möge sich bitte den US-Präsidenschaftswahlkampf vom Team Barack Obama noch einmal anschauen – Menschen interessieren sich für Menschen, und die (textbasierten) ad hoc Gespräche, die auf Plattformen wie Facebook und Twitter stattfinden, haben in den heutigen Zeiten den durchschlagenden Effekt.

Mit einer Horde plakatbewehrter Schreihälse allein kann man heute nur noch Fernsehkameras beeindrucken, aber keinen Wandel der Gesellschaft herbei zwingen. An dieser Stelle sei dann auch noch mal auf die fantastische Twitter-Berichterstattung von den Castor-Demonstrationen und Blockaden hingewiesen – so arbeiten Straßenprotest und Netz zusammen, anno 2008! Und nicht durch Zufall haben sich diese Leute mit den letzten Tweets auch noch mal Obamas inoffizielles Wahlkampfmotto (das erst durch das Video von Will.i.am popularisiert wurde) auf die Fahnen geschrieben:

dies war der absolut großartigste #castor widerstand ever. because we can. auf wiedersehen.

Summa summarum: Ich glaube nicht, dass Wolfgang Lorenz und die, welche die Sache ähnlich sehen wie er, überhaupt auch nur in der Lage sind, das was im Netz grad abgeht, als Revolte zu sehen (andere sind da optimistischer). Ich bin mir selbst nicht einmal sicher, ob ich es als Revolte sehen möchte – Mikro- oder eher noch Mikronischenrevolte, das erscheint mir passender. Im Camp der in Österreich bloggenden, twitternutzenden Internetbevölkerer ist man ziemlich echauffiert – aber Mikronischen jucken den ORF eben nicht.

Und eben darum wird er so schnell auch keine weiteren ‚Jugendlichen‘ (bzw. wer auch immer auf der anderen Seite der Polarisierung vermutet wird – ich sehe mich mit meinen 34 Jahren nun wirklich nicht mehr als Jugendliche) vor den Fernseher locken.

Finale Worte: Wenn ein Programmdirektor so etwas sagt, ist das eigentlich eine hervorragende Gelegenheit, um eine Inhalts- und Qualitätsdebatte zu starten – und zwar eine, die die Inhalte und Qualität des programmdirigierten Fernsehens zur Debatte stellt. Hat der ORF überhaupt schon reagiert (bzw. in einer Form reagiert, die im Netz ankommen möchte)?

Auf seinen Österreich-Seiten konnte ich bislang nichts finden (was auch am Mangel einer brauchbaren Suchfunktion auf orf.at liegt – und das sagt schon eines über das Verhältnis des ORF zu einem Medium, dessen wichtigste Kulturtechnik die textgesteuerte Suche ist), und der Pressebereich des ORF ist eben auch nur der registrierten Presse zugänglich – auch das ist eine charakteristische Aussage darüber, wie sich der ORF im Zeitalter der Bloggens und Citizen Journalis sieht, wo jede mit einem Laptop und Internetzugang selbst zum Beobachter und Reporter werden kann. Schade.

Edit: Es gibt einen gezähmten APA-Bericht, den der Standard gebracht hat – den habe ich via Heinz‘ Tweet auf seinem Blog gefunden.

Siehe auch: Post vom Tag darauf.

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  1. 11. November 2008 10:58 am

    Herrlich, eine Mikrorevolte auf der Metaebene 🙂 Der einzige der es nicht mitbekommt, ist womöglich Herr Lorenz selbst.

    Paul D. Miller aka DJ Spooky war ebenfalls in Graz: http://chilli.cc/index.php?id=84-2-40 (zweites Bild) und meinte im Interview, „Vergiss normales Fernsehen“ hahah

  2. 11. November 2008 11:04 am

    Da können wir uns wohl ziemlich sicher sein, dass das im ORF auf der Ebene der Hierachien nur oder überwiegend die Praktikanten verfolgen – denn die kennen sich aus im Netz!

  3. 11. November 2008 4:07 pm

    Was Bauer nicht kennt, frißt er nicht.
    Sagen Sie in Österreich auch so?

  4. 11. November 2008 4:14 pm

    Klar gibts auch viele gute Leute beim ORF! Leider muss man darauf inzwischen schon extra hinweisen…

  5. 11. November 2008 4:23 pm

    @schmerles bin selbst deutsche in österreich und kann darauf leider keine zuverlässige auskunft geben:)

  6. 12. November 2008 2:19 am

    Wenn das stimmten sollte, hat die Mikronischenrevolte die Metaebene verlassen:
    „Auch Programmdirektor Wolfgang Lorenz wird pensioniert. Er hat sich jüngst mit Aussagen über das ‚Scheiß-Internet‘ selbst disqualifiziert.“ gefunden auf:
    http://www.nachrichten.at/politik/innenpolitik/753993

  7. 12. November 2008 9:20 am

    Bin mir nich sicher. Lorenz wird ja nicht wegen seiner Äußerungen pensioniert, sondern weil er lange genug gehackelt hat.

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