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Twitter-Fasten: Ich tu’s (aber nicht für Schirrmacher und Kluge)

12. Februar 2010

Am 17.2. ist Aschermittwoch – im nun vierten Jahr werde ich bis Ostern einige Dinge aufgeben, die mir ansonsten Gewohnheit und/oder die fixer Bestandteil eines Menschen anno 2010 in den Post-Industrienationen geworden sind. Neben den üblichen Verdächtigen – Alkohol, Zucker und Fleisch – gibt es in diesem Jahr einen Neuzugang: Twitter, und dem entsage ich seit gestern schon.

WARUM TWITTER AUFGEBEN?

Medien formatieren unsere Wahrnehmung (und natürlich gestalten auch wir Medien, insofern ist hier nicht von einer bloßen medialen Präformierung zu reden – siehe *) und an und mit ihnen bilden sich unsere Wahrnehmungs- und Artikulationsgewohnheiten. Mit Twitter habe ich Mikroerkenntnisse und Mikroaufmerksamkeit kennen, schätzen und nutzen gelernt und einen Detektor für Themen in meinem Umfeld erhalten, einen mediengestützten ‚sozialen sechsten Sinn‚ entwickelt, wie Clive Thompson es nannte.

Aber manchmal möchte ich auch wieder ohne diesen sein, möchte nicht in der U-Bahn und in anderen handlungsarmen Momenten zum Smartphone greifen, um zu schauen was sonst los ist, möchte dem Impuls, sich artikulierende Gedanken auch auf Twitter zu verfestigen, mal nicht nachgehen, nicht wissen, wie andere darauf vielleicht reagieren, sondern es nur für mich behalten.

Darum gebe ich bis Ostern das Twittern auf – und um mir das einfacher machen und um auch zu sehen, wie sich Mikroerkenntnisse jenseits von Twitter anfühlen, habe ich mir kleine Büchlein gekauft, die ich benutzen werde, wann immer sich ein unter den üblichen Umständen als twitternswert erachteter Gedanke in mir formt. So kann das z.B. ausschauen – mein erster, nicht digitaler Tweet:

Eine spätere Notiz zeigt, wo die Vorteile des materiellen, privaten (von diesen Exempeln abgesehen) Notierens liegen: Wenn mich ein längerer Gedanke umtreibt, schreibe ich eben kleiner; auch später kann ich noch eingreifen, durchstreichen, korrigieren, selbst den notierten Zeitpunkt kann ich mir aussuchen, nicht angeben, nicht ganz atomuhrgenau sein, wenn mir das besser fällt oder mir genügt. (Btw: Sieben von acht meiner heutigen Notizen blieben unter 140).

Obendrein: Es kann sich keiner mit @-reply-Ketten einem an die Fersen heften, wo wem ein Gedanke missfällt oder wer ihn missversteht (was bei 140 Zeichen schnell vorkommt), und anders als im Fall der Twittersuche verliert man auch nicht nach anderthalb Wochen Zugriff auf die eigenen Gedanken. Links kann man natürlich nicht setzen, statt Fotos nur Gedanken für Fotos oder eben Zeichnungen aufs Papier bannen. Ja, Zeichnungen. Schilder abmalen, oder „Buchstaben nach meiner eigenen Phantasie!“**. Gefällt mir.

Man studiere in diesem Zusammenhang auch das Slow Media-Manifest von Sabria David, Jörg Blumtritt und Benedikt Köhler. Meine persönliche Deutung von Slowmedia würde vermutlich vermeiden, in so vielen Gassen auf einmal Hans Dampf zu sein – insbesondere die solipsistischen Tätigkeiten (wie sie auch das Führen eines kleinen, persönlichen Notizbuchs darstellt) scheinen mir in dieser Taxonomie nicht vorgesehen zu sein. Bei etlichen Kriterien scheint mir die Vermarktbarkeit schon immer mitgedacht, etwa in der Betonung von aktivem Konsum, von Gemeinschaftsbildung um Slow Media (Brand Community, anyone?) und Empfehlung statt Bewerbung (Recommendation Marketing, anyone?). Das Unfertige, der Wurf, das nicht Perfektionswillige, das Tätigkeit (statt Produkt) Anstrebende, die Sisyphos-Arbeit, das Kontemplative – das fehlt mir hier noch.

*): Und von wenigen medialer Präformation: Wenn also Schirrmacher mit Kluge als Diskutant sich einig sind über digitale Präskriptionen, dann wünsche ich mir, dass sie sich einmal auseinandersetzen z.B. mit den Aspie-AktivistInnen, den vielen genialen ProgrammiererInnen unter ihnen [vgl. auch dies] und dem Neurodiversity-Movement, bevor sie ihre Variante des menschlichen Vermögens als absolut setzen).

**) Zitat. Wer erkennt von wem und woraus?

Bleiben noch meine drei anderen Gewohneiten, die gschwinder zu erklären sind:

WARUM ALKOHOL AUFGEBEN?
Weil ich selten in einer Woche gar keinen zu mir nehme. Weil ich meiner Leber mal eine Rekonvaleszenzzeit geben will. Weil ich wenigstens einmal jährlich spüren will, wie stark unsere Interaktionen von Alkoholkonsum geprägt sein. Weil Alkohol und üppiges Essen oft Hand in Hand gehen – und wenn schon zurückschrauben, dann richtig.

WARUM ZUCKER AUFGEBEN?
Weil ich täglich Zucker zu mir nehme, ihn (als raffiniertes produkt) aber nie selbst machen könnte. Weil ich an einem Tag ein bis zwei Kannen Tee mit Milch und Zucker trinke, und damit ca. 12 gehäufte Teelöffel – Krapfen, Ribiselcroissants und dergleichen noch nicht eingerechnet. Weil meine Großmutter schwere Diabetes hatte und nur 63 wurde – und um dem Stoffwechsel auch hier eine Gelegenheit mehr zu geben, sich von der Wohlstandsdiät zu erholen.

WARUM FLEISCH AUFGEBEN?
Weil es das Offensichtlichste ist, was man in der Fastenzeit aufgeben kann (ich wäre wohl auch keine gute Metzgerin, aber bitte, ich komme vom Bauernhof). Weil ich jahrelang vegetarisch gelebt habe – nie dogmatisch zwar, aber mich an die Leichtigkeit der Zeit gerne erinnere. Weil ich gutes Fleisch schätze (Alpschwein! Ahle Wurscht!). Weil mich manchmal vor Fleisch auch richtig gruselt – wenn es schlecht zubereitet ist, wenn es quasi industriell gefertigt wurde, was man meistens schmeckt und was die Qual noch unverständlicher macht.

Im übrigen bin ich nicht katholisch, sondern mache Gebrauch von der Chronologie der Fastenzeit und dem kulturellen Interface, das diese bietet. Man probiere es selbst aus:

– „Warum trinkstan du kaan Alkohol? Und Fleisch isst a ned? Bist deppat?“
– „Ich faste. Ist ja Fastenzeit.“
– „Ah so.“

24 Kommentare leave one →
  1. 12. Februar 2010 8:55 am

    Lustige Idee, mit den analogen Tweets. Hab ja auch immer jede Menge Notizbücher dabei. Verwenden tu ich sie schlussendlich selten, weil mir das hervorkramen zu umständlich ist. Allerdings hab ich auch kein Smartphone von dem aus ich unterwegs meine Tweets verbreite.

    Was die Verwendung des Fasten-Interfaces angeht, pass mal auf, dass du da nicht noch einen Brief von der Diözese bekommst. Schließlich bittet die Telekom private Netzbetreiber ja auch zur Kasse, wenn die ihre Infrastruktur nutzen 😉

  2. 12. Februar 2010 9:01 am

    @Richard Ja, habe auch immer wieder welche dabei und nutze sie nie, aber jetzt habe ich ja quasi die Verpflichtung, sie rauszukramen. Ansonsten gehe ich mal davon aus, dass mein evangelisches Kirchenkabel ausreicht und die Popengemeinde das Fasten nicht für sich alleine haben will, harr harr!

  3. 14. Februar 2010 4:19 pm

    die buchstaben nach der eigenen phantasie sind von helge schneider, der sich nicht vorschreiben lässt, was er ins kreuzworträtsel reinschreibt.

  4. 14. Februar 2010 4:26 pm

    @mausfabrick hervorragend! der übliche preis an dieser stelle ist ein retweet der wahl, aber das dauert halt noch ein bisserl. kann also auch was anderes sein – lemme know.

  5. 15. Februar 2010 1:52 am

    Ich will einmal einen Monat auf das Internet verzichten. Und Computer. #kindheitstraum

  6. 15. Februar 2010 8:53 am

    @luca i think it is possible. ohne internet. aber für dich wohl nur in den semesterferien.

  7. 15. Februar 2010 10:26 am

    Ist ja schön, der Fastengedanke. Aber ich vermisse @digiom auf Twitter. Meine Timeline vermackert …

  8. 15. Februar 2010 10:45 am

    @sennhauser ha! nach Ostern wieder at your service, gegen die mackerei in unsrer kleinen Welt.

  9. 15. Februar 2010 11:27 am

    @digiom ich nehm gern den retweet nach o*, vorfreude ist die schönste freude.

  10. 16. Februar 2010 8:25 pm

    Die Idee im Sinne einer Selbstregulation findet meine Zustimmung.
    Einzig mit der christlichen-religiösen Konnotation, die dem Begriff „Fasten“ bin ich nicht ganz so glücklich. 😉

  11. 17. Februar 2010 12:23 am

    @Tobias nun ja, dass jemand der fastet das nicht tut um dich glücklich zu machen, das kann man wohl so stehen lassen. von selbstregulation allein ohne religiös-spirutuelle Konnotation reden zu wollen erscheint dafür mir wieder rum recht kulturvergessen, bzw auch der christlichen Kultur vergessen. und da (die Diskussion gabs hier schon mal) bin ich immer wieder verblüfft dass oft die selben Leute yoga und Buddhismus voll dufte finden, die christliche traditionen nur noch höhnisch zur Kenntnis nehmen. Selbstregulation ist jedenfalls sicher nicht von getting-Things-done propheten erfunden worden, dafür darf man all dieses selbstoptimierungsgedoens mit dem ernst von ersatzreligionen betreiben.

  12. 18. Februar 2010 12:21 pm

    großartige Idee!
    Es ist wirklich erschreckend, wie oft am Tag ich auf mein Handy schaue. Noch vor zwei Jahren war das ja nu zum Telefonieren und Sms schreiben da und selbst damals war ich schon zu oft davon genervt, wie viel man sich mit dem Ding bescäftigt. aber seitdem ich auch noch alle halbe stunde neue mails, news und andere dinge drauf geschickt bekomme, beschäftige ich mich damit mehr als wohl mit irgendwas anderem jeden tag…
    mir ist grad die nette idee in den kopf gekommen vll mein handy in der fastenzeit nur noch 1-2mal pro woche aufzuladen. derzeit muss ich es täglich tun(ok es steckt ja auch in meiner stereoanlage drin und hängt am laptop etc.) so müsste man den konsum ja eindeutig einschränken =) nur ob ich das durchhalte…

  13. 18. Februar 2010 2:26 pm

    @anmi: schöne idee!

  14. 2. März 2010 9:28 am

    Luca und du ziehen das voll durch, wow.

  15. 2. März 2010 6:39 pm

    ja, wobei ich mir ja facebook nicht abgewoehnt hab;-)

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